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Geld mach Leute

7 Uhr früh. Der Wecker klingelte. Doch niemand hörte ihn. Denn Dennis Strapinski, sein Besitzer, lag bewusstlos in einer dunklen Gasse irgendwo in Berlin. Er hatte schwarzes, kurzes Haar, war ungefähr 1,88 Meter groß und hatte markante, aber anziehende Gesichtszüge. Das Erste, an das er sich erinnerte, als er aufwachte, war, wie er mit ein paar fremden Leuten in eine Bar gegangen war, um den Frust wegen des geplatzten Auftrages zu ertränken. Denn eigentlich war er Vorstandsmitglied eines Modelabels. Es fröstelte ihn. Nun erst merkte er, dass man ihm das Jackett und die dazu passende Hose gestohlen hatte. Nur die Goldmünze, die er an einer Kette um den Hals trug und die er von seiner Mutter geerbt hatte, als sie vor einigen Jahren bei einem Hausbrand umgekommen war, hatte man anscheinend nicht entdeckt. Immer noch mit einem Kater setzte er sich auf und blickte verdrossen die Gasse entlang. Ein paar Meter weiter entdeckte er eine Altkleidersammlung, aus der er ein dreckiges und ausgeleiertes T-Shirt und eine zerschlissene Sporthose fischte. Er zog beides an, denn Mitte November war es besser als nichts, wie er fand. Dann beschloss er, sein Hotel zu suchen. Erst nach ein paar Metern fiel ihm auf, dass natürlich auch seine Brieftasche weg war - und ohne Ausweis würde man ihn nicht hereinlassen ...

Abends, nachdem er die ganze Zeit auf der Suche nach einem Telefon durch die Gegend geirrt war, ging er in eine Bar, um sich kurz auszuruhen. Plötzlich kam ein ca. 1,80 Meter großer Mann mit einem schwarzen Käppi, einem XXL-T-Shirt von Nike Air und einer mit Geldscheinen bedruckten schwarzen Jeans auf ihn zu. Er hatte ein schmales Gesicht, trug einen großen Ohrring mit einem offensichtlich gefälschten Diamanten und hatte braune Haare. Er sagte: „Hi, kann ich mich zu dir setzen?“ Dennis war das egal, aber er überlegte, ob der Fremde ihm nicht vielleicht etwas zu trinken spendieren würde, denn nach diesem anstrengenden Tag hatte er ziemlichen Durst. Nach einiger Zeit, in der sie über die neuesten Kinofilme und die EM geredet hatten, spendierte ihm Mike - so hieß der Fremde - tatsächlich etwas zu trinken. Als die Stimmung zwischen ihnen später am Abend immer ausgelassener wurde, fragte Mike: „Was machst du eigentlich in einer abgelegenen Gegend hier in Neukölln?“
„Ich weiß gerade gar nicht, was ich tun soll“, antwortete Dennis. „Wieso, was ist passiert? Hat dich einer von diesen beschissenen reichen Arbeitgebern rausgeworfen und du suchst 'nen neuen Job? Das ist mir nämlich letzte Woche passiert!“ Dennis blickte auf und schmunzelte. „Naja, man sieht wohl, dass es bei mir im Moment nicht so besonders läuft, oder?“ Der Andere taxierte ihn und grinste ihn an. „Brauchste vielleicht Hilfe? Ich würde dir gern helfen. Ich hätte sogar 'ne kleine Wohnung für dich. Na gut, sie iss 'n bisschen dreckig, aber immerhin isses 'ne Wohnung. Da könntest du 'ne Zeitlang wohnen.“ Plötzlich war Dennis mulmig zumute. Wer war dieser Mann, der ihn einfach so ansprach und ihm kurz darauf eine Wohnung anbot? Nervös griff er nach der Münze, die an der Kette um seinen Hals baumelte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie ihm Kraft gab. Also fragte er, warum Mike ihm denn helfen wolle. „Du kommst mir irgendwie sympathisch vor. Außerdem helfe ich gerne Leuten.“
„Ähh, wirklich nett von dir, aber eigentlich wollte ich gerade ... “ Schnell ging er in Richtung Tür. Da ging diese plötzlich auf und eine sehr hübsche Frau trat ein. Bewundernd schaute Dennis ihr hinterher, während sie auf Mike zuging. Da rief dieser ihm zu: „Hey, wo willst du hin?“ Dennis antwortete: „Ähh, ich wollte eigentlich nur aufs Klo.“
„Okay, ich muss jetzt los, wir sehen uns hier nachher um 23.30 Uhr.“
Dennis schwieg.
„Das deute ich mal als 'ja' “, sagte Mike zu ihm, als er an ihm vorbei zur Tür ging.
Ein paar Stunden später stand Dennis vor der Bar und wartete auf Mike. Währenddessen spielte er mit der Goldmünze, die er nun in seiner Hosentasche herumtrug. Er überlegte gerade, ob er nicht doch verschwinden solle, als Mike plötzlich auf ihn zukam. „Jo, was geht ab? Das hier ist ... ähm...“ und er schaute die offensichtlich sehr stark angetrunkene Blondine an seiner Seite fragend an, die merkwürdig nuschelnd etwas von sich gab, das auch er nicht zu verstehen schien. „Naja, das ist auf jeden Fall eine Freundin von mir. Und meine Schwester Tiffany hast du vorhin ja schon gesehen.“ Dennis fiel für gefühlte 10 Jahre - tatsächlich waren es nur 30 Sekunden - in ein verlegenes Schweigen, was Mikes Schwester anscheinend belustigte. „Los, komm, wir haben ein paar Meter weiter unser Auto geparkt, wir fahren erst mal zu mir und essen was. Dann fahren wir in die Absteige, von der ich dir schon erzählt habe ...“
Die Blondine hatten sie vor einer anderen Bar abgesetzt. Während der Fahrt unterhielt sich Dennis mit Tiffany über Klimaerwärmung und Kernspaltung.

Ungefähr eine halbe Stunde später kamen sie bei Mike zu Hause an. In der Wohnung gingen sie durch mehrere Räume, in denen es nach alten Menschen roch, und kamen schließlich in ein Zimmer, in dem in der Mitte ein kleiner rechteckiger Tisch stand, der schon für das Essen gedeckt war. An der einen Seite nahm Mike Platz, ihm gegenüber saß Dennis. Tiffany setzte sich neben ihn. Während Mike das Essen in sich hineinstopfte, redete Dennis mit ihr über Mikrobiologie. Schließlich fragte Mike, ob sie Lust hätten, diesen Abend in die Disco zu gehen. Dennis nahm das Angebot eigentlich nur an, damit er mehr Zeit mit Tiffany verbringen konnte. Fünf Minuten später fuhren sie los.

In der Disco angekommen, verschwand Mike sofort, um sich an hübsche Mädchen heranzumachen. Dennis jedoch tanzte sich durch die Tanzfläche zur Bar durch. Tiffany folgte ihm. Eine Zeitlang erzählte sie ihm, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte und was sie werden wollte. Danach schwiegen beide einige Zeit verlegen. Plötzlich wurde es Dennis mulmig zumute. Was wäre, wenn sie herausfänden, dass er eigentlich nicht arm war? Würde er mit Tiffany zusammen sein können, wenn sie wüsste, dass er sie belogen hatte? Am besten wäre es wohl, wenn er sich jetzt zurückziehen, Mike ein wenig Geld als Dank schicken und aus ihrem Leben verschwinden würde. Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, täuschte er vor, auf die Toilette gehen zu müssen, und verschwand mit einem kleinen Umweg in Richtung Tür. Doch da stand, wie der Zufall es so wollte, Mike mit einer recht bekannten Blondine neben ihm. „Hey, wo willst du denn hin? Komm, bleib doch noch ein bisschen und amüsier dich! Ich besorg dir auch eine heiße Braut, wenn du willst.“ Resigniert gab Dennis auf und folgte Mike an die Bar.

9 Uhr früh. Der Wecker klingelte. Doch niemand wollte ihn hören. Denn Dennis Strapinski, sein Besitzer, lag mit einem so strammen Kater im Bett, dass er am liebsten ins Koma gefallen wäre. Das tat er aber nicht; also stellte er den Wecker aus und schlurfte in Richtung Badezimmer - wenn man eine Toilette, eine Dusche, die man nicht benutzen konnte, und ein winziges Handwaschbecken als solches bezeichnen konnte. Nachdem er sich für den Tag bereit gemacht hatte, rief er seine Schwester an. Sie arbeitete in derselben Firma wie er und hatte sich bereits gewundert, wo er geblieben war. Sie meinte, sie könne ihn vom Bahnhof abholen, wenn er sie erneut anriefe, wenn er wieder in Frankfurt sei. Denn an diesem Morgen hatte er beschlossen, dass er wieder zurückwollte. Das hier war kein Leben, das zu ihm passte.
Also wollte er um ca. 15.45 Uhr zum Bahnhof gehen. Sachen, die er hätte mitnehmen müssen, hatte er nicht. Überhaupt hatte er nichts, außer dem Geld, das er sich am Vorabend von Mike „geliehen“ hatte. Er würde es ihm ja zurückzahlen - später. Als er gerade die Haustür öffnete, um sich auf den Weg zu machen, stand er plötzlich vor Tiffany. „Du willst abhauen, oder?“, fragte sie. Dennis fluchte innerlich und fragte sie, wie sie darauf komme. Wie hatte sie das erraten? Lahme Ausflüchte konnten ihn wahrscheinlich nicht aus dieser Lage befreien, aber sie brachten ihm immerhin ein wenig Zeit zum Überlegen, was er jetzt tun solle. „Du willst schon die ganze Zeit gehen. Das merkt man. Du denkst, dass du nicht hier hingehörst. Aber bitte, bleib da. Bitte.“ Dann drehte sie sich um und ging die Straße entlang. Dennis wusste nicht, was er tun sollte. Schließlich entschied er sich und lief ihr hinterher. „Okay, ich bleibe hier. Aber warum willst du denn so sehr, dass ich hier bleibe?“
„Sehen wir uns heute Abend in der Disco?“, wollte sie wissen und überging seine Frage. Er nickte nur und ging in die andere Richtung davon, weil er sich von dem Geld noch etwas Schickes zum Anziehen kaufen wollte.

Am Abend trafen sie sich wieder. Fast den ganzen Abend schwiegen sie, und er wusste einfach nicht, was er sagen sollte; dann gab er sich einen Ruck und küsste sie einfach. Da schrie Mike: „Was soll das denn? Erst helfe ich dir und dann küsst du einfach meine Schwester, ohne mich zu fragen?“
„Warum sollte er dich denn fragen, ob er mich küssen darf?“, fragte Tiffany. Viele Discobesucher drehten sich um, um die Quelle des Krachs zu erfahren, und starrten die drei an. Plötzlich rief jemand aus der Menge: „Hey, dich hab ich schon überall gesucht! Hier, ich wollte dir noch etwas zurückgeben! Das hat mir mein Psychiater geraten!“ Der Sprecher drängelte sich durch die Menschenmenge nach vorne und drückte Dennis seinen Anzug in die Arme. Schweigen breitete sich aus. Alle starrten Dennis an. Dieser wurde rot und begann leise Erklärungen zu stammeln, dann entschloss er sich anders und bahnte sich einen Weg in Richtung Tür. Schließlich riss er die Tür auf und rannte hinaus in die Nacht.

Tiffany überlegte nicht lange, rannte hinterher und wollte ihn suchen. Er war zwar nicht der, für den sie ihn gehalten hatte, aber wer immer dieser Mensch war, erfrieren sollte er nicht.

Auch ihr Bruder fackelte nicht lange und folgte den beiden, Dabei machte er sich an seiner Hosentasche zu schaffen. Dieser Strapinski hatte nichts anderes verdient - er war ein elender Heuchler. Und mit einem solchen Betrüger sollte sich seine Schwester nicht abgeben ... Während Tiffany mit ihrem Auto anfuhr, war er mit seinem Wagen schon dicht hinter ihr.

Tiffany fuhr geradezu panisch einmal in diese Richtung, einmal durch jene Gasse. Theoretisch konnte Dennis überall sein, doch sie ahnte, dass er noch in der Nähe war. Plötzlich nahm sie in ihrer Hektik eine Kurve zu scharf und schrammte einen Laternenmast. Zu dieser Zeit hatte sie ihren Bruder schon abgeschüttelt, obwohl sie ihn vorher nicht einmal bemerkt hatte. Man kann es Glück oder Schicksal nennen, denn in dem Moment, in dem sie aussteigen und sich den Schaden ansehen wollte, bemerkte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gasse. Und, wie es der Zufall so wollte, in eben dieser Gasse lag ein völlig durchgefrorener, halb bewusstloser Mensch, Dennis Strapinski.
Erschrocken rannte sie auf ihn zu und beugte sich über ihn. Er regte sich kaum und als er kurz die Augen aufschlug, schien er sie nicht zu erkennen und schloss sie dann wieder.
So schnell, wie sie konnte, versuchte sie, ihn in Richtung Auto zu schleifen - ohne Erfolg. Schließlich half ihr ein verwunderter, ahnungsloser Passant, den sie danach ruppig wegscheuchte. Ungefähr fünf Minuten später kam Dennis wieder zu sich. Er blickte Tiffany an und seufzte. Er hatte diesen Moment vermeiden wollen. Er war so glücklich gewesen. Und jetzt war alles zerstört worden, weil dieser eine Dieb es nicht mit seinem Gewissen hatte vereinbaren können, einen wehrlosen Mann zu bestehlen, verübeln konnte ihm dies aber wohl niemand. Dennis tat es trotzdem. Er blickte Tiffany nochmals lange in die Augen und er begann zu erzählen: von dem geplatzten Auftrag über die Saufnacht mit den Unbekannten und wie er am nächsten Morgen benebelt und beraubt aufgewacht war. Dann schilderte er, wie er immer wieder verschwinden wollte, sich dann aber doch anders entschloss, teils weil er sich nicht traute, teils weil er nicht wusste, wie er weitermachen sollte und wie er am Ende gar nicht mehr wegwollte, ihretwegen.
Schluchzend wollte er sie umarmen. Erst wich sie zurück, dann betrachtete sie ihn lange und dann fiel sie ihm, ebenfalls schluchzend, um den Hals. In diesem Moment schlossen sie einen stillen Pakt, dass sie einander nie mehr belügen würden und dass sie bis ans Ende ihrer Zeit zusammenbleiben würden. Plötzlich sahen sie, dass Mike am Ende der Gasse stand. Und in seiner Hand hielt er eine Pistole. Er sah total betrunken aus und betrachtete Dennis, während er Tiffany umarmte. Dann sagte er mit erstickter Stimme: „Ich habe dir geholfen, dir den Start für ein neues Leben gegeben. Und nun befingerst du meine Schwester!“
Tiffany rief: „Wovon redest du?“ Doch Mike ließ sich nicht beirren. Dennis sah den Lauf der Pistole auf sich gerichtet. Das Letzte, was Dennis Strapinski in seinem Leben hörte, war das Geräusch einer abgefeuerten Pistole. Tiffany weinte lange und versunken über dem leblosen Körper.
Als sie aufblickte, war ihr Bruder schon wieder verschwunden. Die Pistole lag einige Meter weiter auf dem Boden. In ihrem Kummer sah diese Pistole auf einmal sehr einladend aus. Vielleicht konnte sie so wieder bei Dennis sein ...