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„Sie sind freigesprochen!“, verkündete der Richter. Dann ging ein armer Autoschlosser namens Erik Strapinski aus einem großen Gerichtsgebäude. Es war ein unfreundlicher Novembertag und Erik war auf dem Weg nach Hause. Er war sehr blass und er konnte seinen Atem in der Kälte sehen. Seine Haare waren kurz geschnitten und gepflegt. Er trug einen schwarzen, eleganten Anzug. Seine Krawatte wusste Erik mit Anstand zu tragen. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, weder hatte er gefrühstückt, noch hatte er zu Mittag gegessen.
Da hielt ein Taxi genau vor ihm an. Sein Bruder Patrick öffnete die Tür und sagte, dass er einsteigen solle. Als Erik neben seinem Bruder saß, fragte er ihn, wo sie hinfahren würden. Der Bruder antwortete: „Du hast mich als Zeuge in diesem Prozess gerettet. Ohne dich wäre ich verloren gewesen. Wir fahren in ein teures Restaurant. Diesen Tag müssen wir doch feiern!“
Sie hielten vor einem der teuersten Restaurants in Berlin an. Als sie das Restaurant betraten, nahm ihnen ein Kellner ihre Mäntel ab und ein anderer Kellner begleitete sie zu ihrem Tisch. Erik war noch nie zuvor in so einem edlen Restaurant gewesen. Der Kellner brachte ihnen die Speisekarte und fragte sie, ob sie denn schon wüssten, was sie trinken wollten. Patrick antwortete sofort, dass es einen besonderen Anlass gäbe und er natürlich Champagner bestelle. Erik wollte zunächst etwas Kleines bestellen, doch sein Bruder bestellte sofort zwei Hummer.
Das Restaurant war gut gefüllt und am Tisch links neben Erik und Patrick saßen vier Geschäftsmänner, die einen erfolgreich abgeschlossenen Verkauf feierten. Rechts neben ihnen saß ein älterer Herr allein an einem Tisch. Er aß still sein Essen und schaute immer wieder auf sein Mobiltelefon. In diesem Moment kam auch schon der Kellner mit dem Champagner und den beiden Hummern. Eriks Bruder wusste nicht, wie man einen Hummer isst und fragte deshalb seinen Bruder. Dieser wusste es, weil er es einmal in einer Kochsendung im Fernsehen gesehen hatte. „Also, zuerst trennt man mit Messer und Gabel den Kopf vom Schwanz ab und schneidet dann den Panzer an der weichen Unterseite auf. Als letztes klappt man ihn auseinander und zieht das Fleisch heraus.“, erklärte Erik.
Der Kellner hörte Erik sprechen und sagte zu einem anderen Kellner: „ Ich habe es dir doch sofort gesagt, dieser Mann weiß, wie man einen Hummer zu essen hat. Er ist bestimmt ein reicher Geschäftsmann.“ Der ältere Mann rechts neben Erik hatte die Unterhaltung der Kellner gehört und interessierte sich fortan für Erik und seinen Bruder. Er beobachtete sie und fragte schließlich nach: „Entschuldigen Sie, falls ich störe, ich wollte fragen, ob es einen besonderen Anlass für ihre kleine Feier gibt?“ Noch bevor Erik antworten konnte, sagte sein Bruder Patrick: „Ja, es gibt einen besonderen Anlass. Mein Bruder ist der beste Anwalt der Welt. Er hat mich heute in einer Verhandlung gerettet.“
„Das freut mich. Oh, ich muss mich entschuldigen, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Wolfgang von Schönhausen.“, entgegnete der ältere Herr. Patrick sagte: „ Mein Name ist Patrick Strapinski und dies ist mein Bruder Erik Strapinski.“
In diesem Moment bekam der Bankier Wolfgang von Schönhausen einen Anruf auf seinem Handy. Er entschuldigte sich bei Erik und Patrick und drehte sich von ihnen weg. Er unterhielt sich fünf Minuten lang und legte dann auf. Er wandte sich wieder dem Autoschlosser und seinem Bruder zu. „Ich muss leider zu einem wichtigen Meeting. Vielleicht können wir an einem anderen Tag unsere Unterhaltung fortführen? Wenn Sie wollen, können Sie zu meiner Feier am Samstag kommen. Dort können wir ungestört reden.“, sagte Wolfgang von Schönhausen. Erik nahm die Einladung dankend an und verabschiedete sich überaus höflich vo dem Bankier. Danach aßen die beiden Brüder ihren Hummer auf und gingen gegen Mitternacht aus dem Restaurant. Patrick rief ein Taxi und ließ Erik nach Hause fahren.
Den Rest der Woche arbeitete Erik als Autoschlosser in einer Kfz-Werkstatt. Am Samstag traf er sich dann mit seinem Bruder, um auf die Feier von Wolfgang von Schönhausen zu gehen. Erik hatte wieder seinen Anzug mit der eleganten Krawatte an, den er auch im Gericht und beim ersten Treffen mit dem Banker trug. Der Autoschlosser hatte nicht viel Auswahl, denn es war der einzige Anzug, den er besaß.
Als sie vor dem Tor standen, hielten sie den Atem an. Es war ein riesiges Anwesen mit einem großen gepflegten Vorgarten. Sie drückten die Klingel und wurden hereingelassen.
Ein Angestellter öffnete die Tür und begrüßte sie freundlich. Die beiden Brüder betraten einen großen Saal, in dem sich mindestens hundert Leute befanden. Erik stellte sich mit Patrick an einen Stehtisch und beobachtete die Leute. Die meisten waren erfolgreiche Geschäftsleute, die mit ihren Frauen anwesend waren und sich unterhielten. Nun kam ein Kellner an Eriks Tisch und bot ihm auf einem Tablett etwas zu trinken an. Erik nahm es dankend an und redete mit seinem Bruder über seine und dessen Woche.
Dann sahen sie Wolfgang von Schönhausen kommen. Er begrüßte sie und die drei unterhielten sich. „Sie sind also ein Anwalt?“, fragte der Banker. Wieder einmal antwortete Patrick schneller als Erik: „Ja, wie schon gesagt, ist er der beste Anwalt der Welt. Er hat bis jetzt jeden Prozess gewonnen und das wird auch so bleiben.“ Erik warf seinem Bruder einen scharfen Blick zu. Dies sah Herr von Schönhausen und fragte: „Sie geben nicht gerne an? Sie sind bescheiden, nicht wie viele andere Leute in diesem Raum, welche jedem ihre Erfolge auf die Nase binden. Sie gefallen mir.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der Bankier von den beiden und ging. Sofort sagte Erik zu Patrick: „Es ist nicht mehr lustig! Ich hätte die ganze Situation aufklären können. Jetzt wird er mich jedem als Anwalt vorstellen!“
„Alles klar! Ich werde es demnächst unterlassen. Ich gehe jetzt am besten.“, sagte Patrick und ging aus dem Saal.
Erik dachte, dass er auch gehen sollte, doch verwarf vorerst diesen Gedanken. Er sprach mit vielen Leuten und amüsierte sich. Dann nahm er seinen Mut zusammen und stand auf, schlug seinen Mantel elegant über die Schultern und ging langsam durch eine Menschenmenge hindurch. Erik hatte sich bereits überlegt, wie er die komplette Situation aufklären könnte. Er wollte, wenn er wieder zu Hause ankam, sofort bei Wolfgang von Schönhausen anrufen und ihm alles genau erklären. Als er in der Mitte des großen Raumes stand, sah er sich nach der Ausgangstür um. Dies sah ein Kellner und ging sofort auf Erik zu: „Sie suchen die Toilette? Einen Moment, ich werde Sie dorthin führen“, sagte der Kellner. Nun ging er mit dem Kellner einen langen, schmalen Gang hinunter. Sie blieben vor einer Tür stehen, auf welcher mit zierlicher Schrift „WC“ stand. Erik ging ohne Widerspruch mit seinem Mantel auf die Toilette und schloss die Tür hinter sich zu. Er lehnte sich an die Wand und seufzte. Einen kurzen Moment verweilte er in dem Raum, dann ging er hinaus.
Wieder in dem großen Saal angekommen, suchte er Wolfgang und fand ihn schließlich. Er sagte zu ihm: „Ich muss leider los. Ich habe soeben einen wichtigen Anruf bekommen.“ Darauf antwortete der Bankier: „Das kann ich verstehen, es war schön, dass sie heute hier waren. Vielleicht könnten wir uns demnächst wiedersehen? Morgen gehe ich mit meinen Freunden in ein Kasino zum Pokern. Wollen Sie mitkommen?“
„Sehr gerne. Wir sehen uns dann morgen“, sagte Erik äußerlich erfreut, doch innerlich deprimiert. Nun ging er aus dem Saal auf die Straße und rief sich ein Taxi. Er fuhr nach Hause und legte sich in sein Bett. Er schlief sofort ein.
Es war 8.39 Uhr am Morgen.Erik Strapinski lag in seinem Bett. Er war wach, doch er wollte weiterschlafen. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn sehr mitgenommen, was war nur mit ihm geschehen? Wie ist er nur in diese Situation hineingeraten? Eins stand fest, Erik befand sich in einer misslichen Lage. Doch er wollte kein Trübsal blasen, sondern endlich frühstücken. Erik war verzweifelt und aß fünf Brötchen. Danach erhob er sich, legte sich wieder in sein Bett und schlief ein.
Der Autoschlosser erwachte. Er drehte sich um und sah auf die Uhr. Es war schon 18.39 Uhr. „Oh nein, die Freunde von Wolfgang von Schönhausen haben sich doch mit mir für 19 Uhr verabredet“, dachte er. Schnell zog er sich an, warf sich seinen Mantel schnell über die Schultern und eilte aus dem Haus. Erik winkte einem Taxi und stieg ein. „Mustermannstraße bitte!“, sagte er. Nach etwa zehn Minuten war er da. Erik gab dem Mann zehn Euro und stieg aus. Plötzlich berührte ihn jemand an der Schulter. „Guten Abend Herr Strapinski. Wie geht es Ihnen?“, fragten drei tiefe Stimmen. Er drehte sich zu ihnen um und sah in die Gesichter dreier Männer. Es waren die Freunde von Wolfgang. Erik ging nun mit diesen Männern über die Straße. Sie hatten jeweils einen schwarzen Mantel, eine weiße Hose und einen schwarzen Hut an. „Schöner Partnerlook.“, dachte sich Erik. Sie standen vor dem Casino „Annola“. Im Gebäude nahmen sich die vier Herren einen Pokertisch und wollten sich nun ihre Chips, (außer Erik,) holen. Denn er hatte gerade einmal 50 € in seiner Tasche.
Einer der Männer bemerkte dies und sagte zu ihm: „Ach, bestimmt haben Sie ihre Brieftasche zu Hause liegen gelassen! Lassen Sie mich ihre Chips kaufen!“ Erik Strapinski sah den Mann zunächst erstaunt an, nahm das Angebot aber nach kurzem Überlegen an. Es war ein sehr langer, aber auch guter Abend. Erik vermochte nicht zu sagen, ob es nun Zufall oder sein Glückstag war, doch gewann er jede Runde und bekam eine ganze Menge Chips. Schon bald hatten die Männer keine Lust mehr, verabschiedeten sich von Strapinski und verließen das Casino. Auch Erik ging, nachdem er seine Chips abgegeben hatte und das gewonnene Geld eingesteckt hatte. Während er gerade so lief, kam ihm wieder der Gedanke, sich zu verstecken und die Kontakte abzubrechen, denn er fühlte sich miserabel, da alle in ihm eine Person sahen, die er nicht war.
Erik war nahe daran gewesen, das in die Tat umzusetzen, doch da rief eine dumpfe Stimme nach ihm: „Herr Strapinski!“ Er hielt inne und drehte sich langsam um. Strapinski erkannte den alten Mann, Wolfgang von Schönhausen. „Hätten Sie vielleicht Lust, heute bei mir zu Abend zu essen?“, fragte ihn dieser. Eigentlich wollte Erik ablehnen, um aber nicht unhöflich zu erscheinen, willigte er dennoch ein. So schloss er sich dem Mann an und begleitete ihn. Beim Bankier angekommen, zog er seinen Mantel aus und lief hinter Wolfgang her. Er befand sich in einem großen Esszimmer, in welchem eine junge Frau stand.
„Dies ist meine Tochter Maria.“, sagte der Banker. Erik gab Maria seine Hand und sagte: „Schön, Sie kennen zu lernen.“
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“, entgegnete Maria. Sie trug ihre langen blonden Haare offen und lächelte Erik mit ihren schmalen Lippen an. Erik wollte anderswo hingucken, doch er starrte die ganze Zeit in Marias blaue Augen. „Nun ... wollen wir essen?“, fragte ihr Vater. Die beiden stimmten ihm zu und alle setzten sich an den Tisch und fingen an zu essen. Dabei redeten der Bankier und Maria viel über ihr Leben, sodass Erik nichts von sich selbst erzählen musste. Darüber war er sehr erleichtert, denn er wusste nicht, was er sagen sollte.
Nach dem Essen unterhielten sie sich noch eine Weile und schließlich fragte Maria Erik, ob er nicht etwas von seinem Beruf erzählen könne, doch da klingelte sein Handy.
Sein Bruder, der am Handy war, fragte ihn, wann er nach Hause käme, und er sagte, dass er sich jetzt sofort auf den Weg machen würde. Dem Bankier sagte er, dass er wegen eines wichtigen Gerichtstermins gehen müsse. Der Autoschlosser war sehr erleichtert, dass sein Bruder angerufen hatte, da er so nichts von sich zu erzählen brauchte. Als er sich von allen verabschiedete, fragte Maria ihn, ob er morgen Zeit hätte, zu ihr zu kommen. Er nahm die Einladung an und machte sich auf den Weg nach Hause.
Am nächsten Tag kam ihm die Arbeitszeit sehr lang vor, da er danach zu Maria gehen würde. Als er fertig war, wartete er auf Maria, die ihn abholen wollte. Schließlich sah er den Bus und ein letztes Mal dachte er daran, nach Hause zu gehen, weil er nicht wollte, dass alle ihn für einen Anwalt hielten. Er würde einfach nicht mehr zu ihnen gehen und sie würden ihn sowieso bald vergessen.
Er war gerade dabei, in den Bus zu steigen, da sah er Maria mit dem Auto ankommen, um ihn abzuholen. Er sah ihr ins Gesicht und verwarf sofort den Gedanken zu fliehen und stieg bedenkenlos zu ihr ins Auto. Als Erik mit Maria in ihrem Cabrio durch die von prächtigen Bauten gesäumten Straßen im Süden von Berlin fuhr, verspürte er gar keinen Ärger mehr wegen seines gescheiterten Fluchtversuchs. „Ach Maria, es ist so schön, bei strahlendem Sonnenschein mit dir ziellos im Cabrio durch die Gegend zu fahren, da vergisst man doch all seine Sorgen sofort und ist einfach nur froh, auf der Welt zu sein!“, sprach Erik liebevoll zu Maria. Sie erwiderte beglückt: „Das hast du sehr schön gesagt, Erik, aber hast du denn irgendwelche Sorgen?“ Er zuckte ein wenig zusammen und überlegte einen kurzen Augenblick, ob er Maria alles erzählen sollte. Dann würde er sich frei fühlen und erleichtert sein. Maria blickte ihn kurz fragend von der Seite an, sie wartete immer noch auf eine Antwort. Doch Erik Strapinski war zu feige und es gelang ihm wieder nicht, Maria gegenüber alles aufzudecken. Er antwortete deshalb: „Nein! Nein! Alles okay! Erzähl mir doch lieber etwas Schönes von dir!“
„Warte kurz! Wir sind gleich an meinem Lieblingscafé, welches genauso heißt wie ich: 'Maria'. Dort erzähle ich dir gern alles von mir, was du hören möchtest.“
Nach zehn Minuten Fahrt erreichten sie das Café 'Maria' und suchten sich einen schönen Platz im Garten. Sie hatten bereits bestellt, als Strapinski Maria fragte, was sie denn beruflich machen würde.
Sie antwortete stolz: „Ich bin Modedesignerin. Kennst du zum Beispiel das rote und geblümte Kleid von Gucci? Man sieht es wirklich auf fast jedem Plakat der Stadt.“ Er antwortete wahrheitsgemäß: „Ja, meinst du das mit dem Rüschen, das ist bezaubernd.“ Maria erwiderte entzückt: „Wirklich, du findest es bezaubernd? Es ist eines von meinen besten Entwürfen.“ Erik meinte nun: „Von deinem wunderbaren Geschmack hast du mich vollends überzeugt ... Mmh ... Hast du eigentlich einen Freund?“
„Nein!6#147;, meinte Maria: „Wieso fragst du das?“
Maria erzählte noch eine ganze Weile aus ihrem Leben und von ihren Vorlieben und bei Anbruch der Dunkelheit sagte Maria, dass sie langsam nach Hause müsse. Während der Autofahrt unterhielten sie sich weiter angeregt. Maria fragte, wohin sie Erik fahren solle. Da dieser früher oder später mit so einer Frage gerechnet hatte, sagte er schlagfertig: „Lass mich doch einfach am Hotel Adlon heraus, da mein Haus gerade saniert wird.“ Daraufhin verzichtete Maria ein wenig enttäuscht auf die Frage, ob sie noch mit zu ihm kommen könne. Es folgten noch viele weitere Verabredungen von Maria und Erik, ohne dass er ihr jemals die Wahrheit über sich erzählt hätte.
Einige Wochen später tranken Maria und Erik bei Marias Vater, Herrn von Schönhausen, einen Kaffee und Erik machte der sehr überraschten Maria seinen lange vorbereiteten Heiratsantrag. Maria war hin und weg, da sie insgeheim schon eine lange Zeit auf den Antrag von Erik gewartet hatte. Überglücklich sagte sie: „Ja“. Ihr Vater war ebenfalls überglücklich und sie fingen sofort mit den Hochzeitsvorbereitungen an. Bei den Einladungen an Eriks Verwandte und Freunde schrieb dieser jeweils handschriftlich und von Maria unbemerkt dazu, dass niemand von seinem wahren Beruf des Autoschlossers etwas erfahren dürfe.
Weitere vier Wochen später tanzte der frisch Verheiratete den schönsten Walzer seines Lebens mit seiner Ehefrau Maria, als die Musik verstummte und Eriks Onkel Wilhelm klingend an sein Glas schlug und um Ruhe für seine Rede bat. Da Eriks Onkel aufgrund seines hohen Alters mittlerweile sehr vergesslich war, fürchtete Erik das Schlimmste. Sein Onkel räusperte sich und begann einen Toast auszubringen: „Auf meinen Neffen Erik und seine wunderschöne Ehefrau Maria! Ich kenne Erik seit seiner Geburt und ich muss sagen, er ist der netteste und liebenswürdigste Autoschlosser Berlins.“ Es gab eine allgemeine Verwunderung und jemand sagte: „Autoschlosser? Er ist doch ein bekannter Anwalt oder etwa nicht?“
Erik Strapinski fühlte sich nur noch als großer Betrüger und Hochstapler. Er rannte aus dem Saal an vielen Tischen mit seinen Gästen und an einer Bühne, auf der eine Band spielte, vorbei bis hinaus auf die Straße. Nachdem er einige Stunden ziellos durch die Straßen Berlins gewandert war, setzte er sich schließlich ermattet vor einer Fassade hin. Mittlerweile war er so unterkühlt und erschöpft, dass er kurz vor einer Ohnmacht stand. Plötzlich hörte er, wie jemand rief: „Oh, Erik, da bist du ja! Ich habe dich überall gesucht.“ Er sah, wie Maria auf ihn zukam und spürte, wie sie ihn an sich drückte. „Ich habe dich eine Ewigkeit gesucht!“, sagte Maria vorwurfsvoll. „Tut mir sehr Leid“, erwiderte Erik betroffen. „Warum bist du überhaupt weggelaufen? Du weißt doch, dass ich dich liebe, egal wie oder was du bist“, sagte Maria mitfühlend. Strapinski blickte schuldbewusst auf den Boden und meinte: „Ich habe mich dir gegenüber so geschämt, weil ... “ Maria fiel ihm ins Wort: „Was heißt, du hast dich geschämt? Ich habe die halbe Stadt nach dir abgesucht und mir die größten Sorgen gemacht.“ Sie blickte auf Eriks blaue Lippe und merkte, dass er vor Kälte und Erschöpfung zitterte. „Ich kenne einen Ort, an dem du dich wärmen kannst und an dem wir uns ungestört unterhalten können.“ Maria hakte Strapinski unter und brachte ihn zu ihrem in der Nähe geparkten Auto. Dankbar stieg Erik ins Auto. Während der Fahrt herrschte ein betroffenes Schweigen. Nach fast anderthalb Sunden schweigender Autofahrt erreichten sie einen luxuriösen Neubau, in dessen Nähe sie keinen Parkplatz fanden, so dass Maria direkt neben dem Haus in „zweiter Reihe“ parken musste.
Maria ging zielstrebig auf das Haus zu, Erik folgte ihr, und sie klingelte bei „Mrs. Mathers“. Nach wenigen Sekunden summte die Türöffnung und die Tür sprang auf. Nun fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage, in der eine junge Frau sie bereits vor ihrem Appartement erwartete. „Schön, dich endlich einmal wiederzusehen, was für einen netten Mann hast du mir denn da mitgebracht?“, fragte Kim und sah Maria und Erik neugierig an. Maria meinte: „Das ist Erik, aber wie geht es denn eigentlich deinem Mann?“
„Marshall schläft gerade, aber um das zu erfahren, seid ihr sicherlich nicht so spät in der Nacht vorbei gekommen. Ihr habt Glück, dass ich heute lange arbeiten musste und erst jetzt nach Hause gekommen bin“, sagte Kim.
Maria erwiderte freundlich, aber bestimmt: „Wir sind so spät dran, weil ich Erik eine Ewigkeit in der Stadt gesucht habe, aber das ist eine lange Geschichte. Ich würde mich gerne mit Erik ungestört unterhalten ... “ Darauf meinte Kim: „Ich für meinen Teil bin hundemüde und gehe sofort ins Bett. Ihr könnt es euch im Wohnzimmer gerne gemütlich machen. Fühlt euch wie zu Hause.“ Dankbar traten Erik und Maria in die Wohnung ein und setzten sich ins Wohnzimmer. „In der Küche steht aufgebrühter Tee, bedient euch einfach, gute Nacht“, meinte Kim schläfrig und verschwand in ihr Schlafgemach. Maria verschwendete keine Zeit und holte den Tee aus der Küche. Erik brachte zwei große Tassen und Untersetzer mit.
Nachdem der Tee eingeschenkt war und sie die ersten Schlucke zu sich genommen hatten, fragte Maria traurig: „Wie bist du überhaupt in diese absurde Situation gekommen, dass wir dich alle für einen berühmten und reichen Anwalt gehalten haben, du jedoch ein Autoschlosser bist? Warum hast du auch mich so lange belogen? Liebst du mich überhaupt noch?“ Strapinski erzählte seine ganze Geschichte, schonungslos, er ließ kein Detail aus, angefangen von der Behauptung seines Bruders, er sei ein bekannter Anwalt bis zur Hochzeitsrede und „Enttarnung“ durch ihren vergesslichen Onkel Wilhelm vor etlichen Stunden. Nachdem Erik aufgehört hatte zu erzählen, blickte ihn Maria zugleich unglaubwürdig, vorwurfsvoll, sehr enttäuscht und auch etwas wütend an. „Hast du jemals jemanden so verletzt wie mich?“, fragte Maria verzweifelt. Erik meinte wahrheitsgemäß: „Mein Vater und ich lebten lange alleine, da meine Mutter schon früh gestorben war. Mein Vater war Gärtner bei einer reichen Familie mit einem riesigen Garten und einer wunderschönen Villa. Die Mutter dieser Familie hatte eine kleine, sehr freundliche und höfliche Tochter, für welche ich öfter den Babysitter 'machte' und mit ihr spielte. Diese Tochter sah in mir eine Art 'großen Bruder', den sie leider nie hatte. Als ihre Mutter starb, nahm ein reicher Herr, ihr Vater, sie zu sich. Die Villa wurde verkauft, mein Vater verlor seinen Job als Gärtner, wurde später krank, fand nie wieder eine vergleichbare Stelle. Der Vater der Tochter machte mir auf eindringliche Bitten seiner Tochter das Angebot, mit zu ihm zu ziehen, er versprach mir eine gute Schulbildung, als Gegenleistung sollte ich auf die Tochter aufpassen.
Ich konnte jedoch nicht mitkommen, da ich auf meinen kranken Vater aufpassen und ihm helfen musste. Als ich dies dem Vater und seiner Tochter mitteilte, sah mich die Tochter mit einem Blick an wie ... so ähnlich, wie du ihn hast, wenn du wütend auf mich bist.“ Maria unterbrach ihn und sagte, dass dies wohl daran liegen müsste, dass sie das Mädchen aus seiner Geschichte sei und sie ihn noch immer so lieb hätte wie damals!
Nach einem sehr langen Schweigen sagte Maria nun etwas glücklicher zu Erik, dass sie nun gehen wolle. Den Rest der Nacht verbrachten Erik und Maria in einem nahe gelegenen Hotel und am nächsten Morgen fuhr Maria allein zu ihrem Vater, der sich bereits sehr um Maria sorgte. Sie erzählte ihm die ganze Geschichte, bat ihn um Verständnis und holte ihre Geldgeschenke, die sie zu ihrer Volljährigkeit bekommen hatte, welche sie erst vor einigen Tagen gefeiert hatte. Der Vater verzieh ihr, da er seine Tochter über alles liebte, und wünschte ihr viel Glück für die Zukunft mit Erik.
Erik hingegen schrieb während der Abwesenheit Marias jedem, den er durch eine Lügen hintergangen hatte, einen Entschuldigungsbrief und bat darin um Verzeihung.

Sechs Jahre später ...
Maria und Erik lebten nun in München. Erik besaß eine eigene Firma für Autozubehör, mit welcher er das Vermögen von Maria verdoppelt hatte. Sie hatten zwei nette, fröhliche, freundliche und hübsche Töchter, die ihnen viel Freude bereiteten. Maria arbeitete seit einiger Zeit wieder als Modedesignerin und war sehr erfolgreich.
Eriks Lügen und Täuschungsmanöver während ihres Kennenlernens hatte sie längst vergessen, da er seitdem nie wieder gelogen hatte. So verbrachten sie glücklich und zufrieden den Rest ihres gemeinsamen Lebens.