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Basierend auf einer wahren Begebenheit

20.10.1979

Kevin Zimmermann wachte auf, als die kleine Luke der Stahltür seiner Zelle mit einem Knallen aufgezogen wurde.

„Korrekte Schlafposition einnehmen!“, bellte der Wärter ihn an und wartete,dass Kevin sich zum ungefähr fünften Mal in dieser Nacht wieder auf den Rücken drehte und die Hände sorgfältig auf seiner Decke platzierte.

Mit einem ebenso lauten Knall flog die Luke wieder zu und Kevin war wieder von der erdrückenden Dunkelheit des Raumes umgeben.

Sein Rücken schmerzte, denn jedes mal,wenn er sich darauf legte, spürte er die Bettfedern durch die Matratze.

Wie gern er jetzt in seinem Doppelbett, in seiner westberliner Wohnung mit Blick auf den Tiergarten gelegen hätte. Neben sich seine Frau Iris, die sich mit ihren immer kalten Füßen an ihn geschmiegt hätte.

Er fragte sich,wie es ihr wohl gerade ging. Ob sie schlief oder sich vielleicht schon an einen anderen Mann kuschelte.

Aber so war Iris nicht. Sie war aufrichtig und sie hatte ihn geliebt.

Seine Brust zog sich vor Schuldgefühlen zusammen. Er hatte sie eindeutig nicht verdient. Er hatte sie jahrelang belogen und ihr vorgemacht er wäre ein hohes Tier in einer Baufirma, der mit Bauverträgen in der DDR sein Geld verdiente und als ob das nicht genug gewesen wäre, hatte er sie schließlich auch noch betrogen.

Für Macht,Geld und den Nervenkitzel, bei jedem seiner Aufträge, hatte er sein ganzes Leben und seine Ehe aufs Spiel gesetzt und mit einem Mal beides verloren.

Seine einzige Hoffnung bestand darin,dass man ihn im Westen frei kaufen würde. Ansonsten würde viele Jahre seines Leben in einem DDR-Gefängnis verbringen; und Iris, die würde er wahrscheinlich lange Zeit nicht wiedersehen.

Vier Jahre zuvor

07.07.1975

Während Kevin in seinem Auto saß und darauf wartete,die Ostgrenze passieren zu können, trommelte er nervös mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum.

Wenn man ihn jetzt erwischte, würden die Kontrolleure ihn wahrscheinlich gleich mitnehmen und „einbuchten“.

Unauffällig legte er seine Hand auf den Innengriff der Autotür und zog leicht daran.

Doch glücklicherweise war er fest angeschraubt und Kevin beruhigte sich, dass niemand dieses Versteck entdecken würde.

Einen Tag zuvor hatte er den Türgriff abgeschraubt, die Kunststofffüllung ausgehüllt und eine Rolle Ostgeld-Scheine, welche er vorher zum Kurs eins-zu-vier im Westen gewechselt hatte, darin verstaut.

Im Kofferraum hatte er Teile der Innenverkleidung herausgenommen und den Hohlraum zwischen Autogehäuse und Verkleidung mit Tonträgern, elektronischen Ersatzbauteilen und westlicher Literatur gefüllt.

Merkwürdigerweise durfte man diese Güter nicht einführen. Welchen Sinn diese Verbote hatten, blieb aus westlicher Sicht offen.

Als Kevin an die Reihe kam gab er sich betont lässig, aber auch respektvoll. Nicht,dass die noch auf die Idee kamen ihn ein bisschen zu schikanieren, weil er zu arrogant und herablassend wirkte.

Gleichgültig reichte er dem Kontrolleur seinen Pass durchs Fenster und das Formular, auf dem er die offiziellen Geschenke, ein kleine Staude Bananen und zwei Dosen Kaffee, deklariert hatte.

Anschließend leistete er den verbindlichen Mindestumtausch von 25 Westmark in 25 Ostmark und wurde zu seinem Glück direkt weiter gewunken.

Auf der restlichen Fahrt zu seiner Tante und seinen Cousins, für die er die Waren geschmuggelt hatte, fühlte er sich seltsam ausgelassen und aufgedreht.

Der Adrenalinstoß und die anfängliche Nervosität hatten ihm einen „Kick“ gegeben, den er am liebsten gleich nochmal bekommen hätte.

Bald wurde das Schmuggeln für Kevin zu einer Art Spiel.

Er fand immer ausgeklügeltere Verstecke und seine Methoden wurden immer raffinierter.

04.09.1975

Kevin schaltete den Motor seines Autos ab und stieg aus.

Er hatte den Wagen am Grenzübergang in der Bornholmerstraße geparkt, denn er war von seiner Tante zu einem Besuch auf den Berliner Fernsehturm eingeladen worden.

Da im Osten das Autofahren nur mit Null-Komma-Null Promille erlaubt war und er auf das ein oder andere Bier im Restaurant des Fernsehturmes nicht verzichten wollte, ging er lieber zu Fuß.

Beschwingten Schrittes und im schicken Anzug lief er die Straße entlang in die Grenzkontrolle.

Dort angekommen tauschte er wie üblich, 25 Westmark ein und gab auf einem Zollformular die 50 Westmark an, die er bei sich trug.

Als er das Formular abgegeben und seinen Pass und Geld wieder im Jackett verstaut hatte, klimperten plötzlich ein paar Münzen in seiner Tasche.

Misstrauisch fragte ihn die Kontrolleurin, ob er noch mehr Geld bei sich führe, als angegeben und als Kevin bejahte und erklärte,dass er das Kleingeld schlicht und ergreifend vergessen hätte anzugeben,forderte ihn die Zöllnerin auf in einen Nebenraum, um ihn einer genaueren Kontrolle zu unterziehen.

Kevin wurde auf einmal ganz heiß und er begann zu schwitzen.

Er hatte sich nämlich Zuhause einen 100 Ostmark-Schein auf den Bauch geklebt und wenn die Kontrolleurin diesen entdecken würde, könnte er das nicht mehr mit einem Versehen entschuldigen.

Sie bedeutete ihm,seine Taschen zu leeren und nach außen umzudrehen, während sie noch einmal genaustens seine Papiere begutachtete.

Kevin -wieder etwas beruhigter- fragte, ob er nun seine Sachen wieder einpacken könne, da sie ja nun sähe,dass es sich um ein Missgeschick gehandelt habe.

Doch die Kontrolleurin wies ihn an einen Moment zu warten, bis ihr Kollege käme und sich um alles Weitere kümmere.

Da lief es Kevin eiskalt den Rücken herunter. „Um alles Weitere kümmern“, hieß so viel wie eine Körperkontrolle, bei der er sich im schlimmsten Fall noch entkleiden müsste.

Während die Kontrolleurin den Raum wieder verließ, kreisten die Gedanken in Kevins Kopf wild hin und her.

Fiebernd überlegte er, sich den 100 Mark-Schein vom Bauch zu reißen und wegzuwerfen, doch der Raum, in dem er stand, war abgesehen von dem Tisch vor ihm völlig leer und es war zu vermuten,dass sich auch eine Kamera im Raum befand.

Um Zeit zu schinden, packte er deshalb erstmal wieder alle seine Sachen zurück in die Taschen.

Als der Zöllner kam, versuchte Kevin möglichst lässig auf seinem Kaugummi zu kauen und so zu tun, als wäre diese Kontrolle völlig unnötig.

Der Mann,der offensichtlich nicht wusste, dass Kevin schon einmal seine Taschen entleeren musste, forderte ihn erneut auf dies zu tun und ebenfalls seine Taschen nach außen umzudrehen und den Hosengürtel zu öffnen.

Der Kontrolleur begann Kevins Körper über der Kleidung abzutasten und Kevin betete, dass er nicht fühlte, wie sein Herz gegen seine Brust hämmerte.

Wahrscheinlich hatte er sowieso schon einen hochroten Kopf und der wilde Herzschlag dazu könnte ihn verraten.

Als die Hand des Mannes über seinen Bauch tastete, genau auf die Stelle, an der der Geldschein saß, hielt er nervös den Atem an.

Erst als, der Kontrolleur ihm sagte, er könne seine Sachen wieder einpacken und ihm eine Moralpredigt über sein „Vergehen“ hielt, nahm das beklemmende Gefühl in Kevin ab und er entspannte sich.

Erleichtert verließ der den Grenzübergang und schwang sich in das erste Taxi, das er erreichte.

Das erste Mal in seinem Leben hatte er wirklich Angst gehabt und gleichzeitig bekam

er wieder diesen „Kick“, wie bei seinem ersten Schmuggel.

Vor der Wohnung seiner Tante, wurde er bereits von seinen Cousins erwartet.

Ihre Gesichter waren rot und schweißnass.

Sie erklärten Kevin,dass erst einige Minuten zuvor die Stasi ihre Wohnung verlassen hatte und und seine Tante verhaftet wurde, da sie und ihre anderen Kellner-Kollegen ihr West-Trinkgeld aus dem InterHotel, in welchem sie arbeitete nicht ordnungsgemäß umgetauscht hatten.

Da sie dies bereits über Jahre getan hatte, hatte sich inzwischen eine beträchtliche Summe an Geld angesammelt und man ging von eine mehrjährigen Gefängnisstrafe aus.

Dieses Ereignis gab den Anstoß für Kevins zukünftigen Weg.

An dem Abend der Festnahme, setzten sich die drei jungen Männer zusammen in eine Kneipe.

Frustriert über ihr Leben begannen Kevins Cousins theoretische Fluchtpläne zu schmieden, wie man aus der DDR entkommen könnte.

Auch Kevin hatte Spaß daran sich auszumalen, wie er seine Schmuggel-Aktivitäten noch hätte ausweiten können.

Im Laufe des Abends nahmen die Pläne immer mehr Gestalt an und schließlich entschieden sie sich es wirklich zu versuchen und anderen zu helfen zu fliehen.

Seine Cousins selbst entschieden sich dafür die Vermittler zu spielen,da sie sich nicht in den Westen flüchten und ihre Mutter allein in einem Ostgefängnis zurücklassen wollten.

Kevin hatte bereits Erfahrungen mit dem Schmuggeln und seine Cousins genügend Kontakte, um eine Flucht zu organisieren.

In den nächsten vier Jahren verdiente Kevin sein Geld fast ausschließlich mit der Fluchthilfe von DDR-Bürgern.

Seine Cousins und er hatten mit der Zeit ein scheinbar perfektes System entwickelt, um Menschen in den Westen zu schleusen.

Sie machten sich dabei das Vier-Mächte Abkommen der Alliierten zum Vorteil.

Zuerst hatte Kevin sich eine schwarze Tschaika-Limousine besorgt und sich von einem Freund im Westen sowjetische Offiziersuniformen schneidern lassen.

Mit diesen,auf der Ladefläche der Tschaika versteckten Uniformen passierte er die Grenze.

In den versteckten Hinterhöfen traf er dann seine „Kunden“. Wie vereinbart kassierte er von allen rund 4,500 Ostmark ab und gab den Männern, es durften nie mehr als sechs sein, ihre Uniformen.

Da es keine weiblichen Offiziere gab, mussten die Frauen sich im Kofferraum oder auf dem Fußboden verstecken.

Das hörte sich zwar im ersten Moment sehr riskant an,doch da die Tschaika nach außen hin, ein mit sowjetischen Militärangehörigen besetztes Auto war, konnte man eine Fahrzeugkontrolle so gut wie ausschließen.

Diese vier Jahre empfand Kevin als die besten seines bisherigen Lebens. Er hatte haufenweise Geld und zudem lernte er eine hinreißende Frau mit dem Namen Iris kennen.

Nach einem Jahr Beziehung heirateten sie und Kevin konnte sich nicht vorstellen,wie es besser hätte sein können.

Das einzig Ungute an seiner „Arbeit“ war, dass er Iris aus Sicherheitsgründen nie etwas von seinen Aktivitäten auf der anderen Seite der Mauer erzählen konnte.

Für sie war er ein „hohes Tier“ bei einer Baufirma, der des öfteren Bau- und

Restaurationsverträge in Ostberlin abschloss.

Doch dann kam Tina Kraus und stellte sein Leben komplett auf den Kopf.

Schon beim ersten Treffen mit der 25-jährigen Sekretärin war Kevin ganz hingerissen.

Die Frau versprühte einen unwiderstehlichen Charme und mit ihrer naiven Art und ihrem unschuldigen Aussehen, gab sie ihm das Gefühl ihr die Welt offenbaren zu müssen.

Für sie wollte er die Flucht ganz besonders angenehm machen und ihr so gut es geht helfen, sich im Westen einzuleben.

Er traf sich mit ihr sogar einmal mehr als nötig, um angeblich den Ablauf der Flucht noch einmal durchzugehen.

Er hatte die ganze Zeit seine Frau Iris im Hinterkopf, die liebenswürdig,wie sie war daheim saß und auf ihn wartete. Doch er verdrängte seine Gedanken an sie und lenkte seine volle Aufmerksamkeit auf Tina.

Er bot ihr auch an, ihre Tante Inge, zu der Tina um alles in der Welt wollte, ausfindig zu machen und mit dieser zusammen schon alle Vorkehrungen zu treffen, jedoch lehnte Tina dieses Angebot ab, da sie ihre Tante überraschen wollte.

Kevin spürte, wie Tina ihn anhimmelte und er gab sich gerne als den erfahrenen Mann von Welt. Er war sich absolut sicher,dass auch diese Flucht geräuschlos „über die Bühne“

gehen würde.

Am 15.10.1979 traf er sich gegen 19:50 Uhr mit seinen Klienten in einem der versteckten Hinterhöfe.

Wie üblich sammelte er erst das Geld ein und dann gab er den Männern die Uniformen aus.

Tina wies er den Kofferraum zu,da dies noch der angenehmste Platz für die Frauen im Wagen war; in der Hoffnung sie würde merken,dass er ihr den Vortritt ließ und sie anders behandelte,als die anderen Frauen.

An diesem Abend fuhren sie zum Grenzübergang am „Checkpoint Charlie/Friedrichstraße“, da dieser Grenzübergang neben dem in der Invalidenstraße der einzige war, an dem Diplomaten und Militärs passieren durften.

Mit seiner üblichen Gelassenheit steuerte Kevin die Tschaika zur Grenze, als plötzlich ein Schreien, die abendliche Stille zerriss.

Ein Mitte 50-jähriger Offizier mit Sturmgewehr, zielte auf Kevin hinter dem Lenkrad und schrie er solle aus dem Fahrzeug steigen,die Arme hinter den Kopf heben und auf die Knie gehen.

Vor Angst gelähmt, tat Kevin, wozu er angewiesen wurde.

Der Mann legte ihm Handschellen an, um sich dann zusammen mit ihm von den Presseleuten, die urplötzlich erschienen waren, fotografieren zu lassen.

Stolz kommentierte er den Tumult, damit dass er gerade einen der meist gesuchten Staatsfeinde der DDR zur Strecke gebracht hätte.

Als Kevins Blick dann auf Tina fiel, die gerade lachend ein Interview gab, während alle anderen verhaftet wurden, begriff er, in welche Falle er getappt war.

Nie hätte er für möglich gehalten,dass seine Tina ein Stasi-Spitzel war...

(von Ann-Kathrin Rust)